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OBSIDIAN

Roland Nachtigäller

EVA & ADELE kommen aus der Zukunft. Seit 1991 erscheinen sie stets gemeinsam, stets gleich gekleidet, stets mit einem Lächeln auf den Lippen in der internationalen Kunstwelt rund um den Globus und verwandeln die Orte ihres Auftretens: „Wo immer wir sind ist Museum“. Was auf den ersten Blick wie eine unterhaltsame Verkleidungs-Performance erscheint ist lebenslange Verpflichtung und Hingabe an eine ebenso radikal wie differenziert ausgearbeitete künstlerische Existenz. Denn es gibt kein Leben von EVA & ADELE außerhalb von EVA & ADELE.

EVA & ADELE haben eine Vergangenheit. Ebenso wie die Schaffung einer neuen Zwillingsidentität von der Utopie eines Lebens jenseits der Geschlechtergrenzen kündet, so markiert die vereinigende Auflösung zweier individueller Künstlerbiographien den Übergang von Alltag in Vision. Anders aber als Utopien mit ihrer aus der Unerreichbarkeit schöpfenden Fernzielästhetik erwächst die Vision im Hier und Jetzt aus einem Schattenreich der Unzulänglichkeit. Sie bleibt dem Leben verhaftet, behauptet einen Realitätsbezug und zieht ihre Energie aus Vergangenem.

EVA & ADELE sind in jedem Moment Gegenwart. In der Überblendung von Kunst und Leben materialisieren sie mit ihrem öffentlichen Auftreten die Realität einer anderen Existenz. Sie erfinden sich täglich neu, suchen nach anderen Formen von Identität – Mann und Frau zugleich, zugespitzt in Kleidung und Farben, schillernd zwischen Glücksversprechen und Verunsicherung. Indem beide Partner in einem bestimmten Moment des Lebens unwiderruflich beschlossen, die rastlose individuelle Suche nach einer gültigen künstlerischen Identität aufzugeben zugunsten einer verbindlichen Gemeinschaftsexistenz, leben sie die Vision einer neuen Rollendefinition und damit eines Zur-Ruhe-Kommens im Spiegel des Anderen.

„Wherever we are is museum“: Das Museum ist der Ort, an dem Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit zusammentreffen. Hier leuchtet das utopische Lebensprojekt von EVA & ADELE als Kunstwerk, hier ist der Ort für die Begegnung mit ihrer realen physischen Existenz und hier manifestiert sich auch eine jeweils individuelle Ge- schichte, die mit all ihren Verwerfungen und Umschiffungen immer wieder in das Jetzt drängt. Erscheint ihr umfassendes mediales und malerisches Œuvre als die konsequente Verlängerung ihrer Lebens-Performance in eine materielle Kunstproduktion – und damit ebenfalls aus der Zukunft kommend –, so stehen die fast tagebuchartigen, grundsätzlich gemeinsam geschaffenen Zeichnungen eher mit den Fragen einer ihr Recht einfordernden Vergangenheit in Verbindung.

Und dennoch: „TSG I“ war ein Schock. Zeichnungen von kaum zu fixierenden Doppelwesen mit ineinander geblendeten Augen, Doppelmündern, mit Hörnern und Deformationen, hart mit dem Bleistift gefasste Physiognomien von Puppengesichtern, denen nicht nur jeglicher menschliche Liebreiz fehlt, sondern die auch zeichnerisch alle Raffinesse, Grauwerte und Meisterschaft verleugneten. Sie sind reine Energie, Doppelströme, Suchbewegungen, Notizen eines korrodierenden Selbstbildes zwischen Abziehbild und Identitätssuche, verstörend, verunsichernd, beklemmend – und vor allem überhaupt nicht das, wofür EVA & ADELE standen. Zugleich aber wies der Titel den Weg: „Transsexuellengesetz“, in Deutschland deutlich weiter gefasst als in vielen anderen europäischen Ländern und für EVA & ADELE ein Weg, jenseits von hormonellen und operativen Behandlungen eine weibliche Zwillingswesenheit zu etablieren, die auch juristisch anerkannt ist. Der Preis aber ist eine doppelte psychologische Begutachtung, eine schonungslose Kindheitsanamnese, die bis zu den ureigenen Wurzeln der Persönlichkeit dringt. Diese Schatten und Gespenster, Fallhöhen und Abgründe umkreisen und fassen die Zeichnungen ab 2009, holen sie mühsam ans Tageslicht und bringen sie dort schließlich zum Leuchten. Eng gebunden an Geborgenheit stiftende Orte wie die Ile de Ré oder das Zuhause in Berlin zeichnen auch die Titel diesen Weg nach: Von den „Kaktusblüten“ über „Nebenglanz“ bis zu „Spiegel-gespiegelt“ arbeiten sich diese Chimären ans Licht, zu den harten Bleistiftstrichen treten glänzend rote Lackleder- fragmente (objets trouvés aus der Kostümproduktion) und schillernde Staniolpapiere. In der jüngsten Serie „Obsidian“ schließlich, die der Ausstellung auch den Titel gibt, scheinen die Bleistiftwelten gefestigt, Symmetrien und Spiegelungen erzeugen erste Ausgewogenheit, die Elemente organisieren sich wieder mehr um ein Zentrum, Flügel, Gründungen, Ballungen erzeugen eine Ruhe, die zwischen Leichtigkeit und Erdung dem Abgrund plötzlich eine stärkende Tiefe verleihen. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die neun Lackkostüme in einem neuen Licht zwischen Korsett und Befreiung, zwischen modischer Extravaganz und verführerischer S/M-ästhetik – eine zweite Haut, die sowohl Schutz und Halt bot als auch an einem bestimmten Punkt abzustreifen war. So führt diese erste umfassende Präsentation des zeichnerischen Werks zwischen 2009 und 2012 von EVA & ADELE ebenso unerwartet wie faszinierend in eine Zwischenwelt, die dem rosafarbenen Glanzlicht ihrer Auftritte graugetränkten Schatten hinzufügt, zwischen Leidenschaft und Kälte, zwischen einem glühenden Leben für die Kunst und den dunklen Winkeln einer niemals abgeschlossenen Identitätssuche. „Obsidian“ ist ein Wendepunkt, ein magischer Moment für jeden Besucher, eine unbeantwortbare Frage an die Bedingungen unserer Existenz.

Ich bin EVA & ADELE zu tiefem Dank verpflichtet, dieses Wagnis mit mir und dem Museum Marta Herford eingegangen zu sein. Gemeinsam machten wir uns vor einem Jahr auf den Weg, aus der spontanen Faszination für einige in ihrem Atelier entdeckte Zeichnungen eine komplexe und tiefgründige Ausstellung zu entwickeln, die vielleicht nicht gleich ein völlig neues Bild dieses Künstlerpaars entwirft, dessen Existenz aber um eine nicht unwesentliche Facette erweitert. Für die große Offenheit, für das Engagement und die mitreißende Begeisterung, mit der die beiden Künstlerinnen dieses Projekt vorangetrieben haben, sind wir außerordentlich dankbar und zollen ihnen zugleich großen Respekt. Auch den zahlreichen Sponsoren und Unterstützern, die sich allesamt von dem Projekt EVA & ADELE faszinieren und überzeugen ließen, spreche ich meinen herzlichen Dank für die Ermöglichung dieses engagierten Projekts aus. Ich bin davon überzeugt, dass es nicht nur in unserem Hause gleichermaßen ein Lächeln wie auch eine tiefe Berührtheit und Nachdenklichkeit hinterlassen wird.

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