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FÜR EVA & ADELE


Marcus Steinweg



1. Ich denke, dass EVA & ADELE eine neue Form erfunden haben: eine ihrer Präsenz und ihrem Auftreten geschuldete Form.


2. Sie definiert sich über den „Partnerlook“ wie über die ungemein disziplinierte Präsenz im öffentlichen Raum, in Museums- und Galerieausstellungen wie auf Kunstmessen.


3. EVA & ADELE – das ist eine Einheit: komplexe skulpturale Präsenz.


4. Ihre Komplexität erreicht diese Präsenz durch die Verbindung zweier Momente: Freundlichkeit und Widerständigkeit.


5. Sie sind durch die favorisierte Farbe ihrer Kleidung und Accessoires wie ihrer bildnerischen Arbeit zusammengehalten.


6. Im Rosa kreuzen sich beide Momente: Die nahezu kindliche Offenherzigkeit und Freundlichkeit der Präsenz wie das (geschlechter)politische Statement einer der „Heteronormativität“ opponierenden Identität.


7. Obwohl es keine explizit politischen Manifeste oder Aussagen von EVA & ADELE gibt, würde man die skulpturale Komplexität ihrer künstlerischen Form verfehlen, unterschlüge man das politische Moment.


8. Die Affirmation einer den noch immer aktuellen Geschlechtsnormen widersprechenden Identität – die bereits die Infragestellung des Identitätsparadigmas einschließt – ist der Kunst von EVA & ADELE inhärent.


9. Es ist eine ebenso freundliche wie insistente Form, die ihr Werk darstellt und laufend reaffirmiert.


10. Darin, unter anderem, liegt seine artistische Strenge und Diszipliniertheit: in der fortwährenden Reaffirmation komplexer Identität.


11. Wie man weiß, hat sich das Identitätsdenken im 20. Jahrhundert verstärkt mit einem Denken der Differenz verbunden.


12. Das nur „identifizierende Denken“, wie Adorno es nennt, das sich dem Ausschluß von Differenz und Komplexität verdankt, wird in seiner Gewaltsamkeit problematisiert.


13. Erst einem Denken, das mit dem Identitätsparadigma bricht, um es mit irreduziblen Differenzen und Singularitäten zu affizieren, kann es gelingen, Identität im Zeichen der Differenz zu bejahren.


14. Das Einholen der Andersheit in die Selbigkeit wird zur Bedingung der Komplexitätssteigerung, die man mit der Vokabel des „Dialektischen“ konnotiert.


15. Dabei handelt es sich nicht um eine Dialektik, die sich in nackter Versöhnung ergeht.


16. Keinesfalls neutralisiert sie Gegensätze in spekulativen Synthesen, um ihnen ihre Spitze zu nehmen.


17. Eher zeigt sie auf diese Spitzen, auf Singularität und Andersheit.


18. Es handelt sich um ein Denken – und wenn ich Denken sagen, schließe ich künstlerische Praxis ausdrücklich mit ein –, das sich in Opposition zur Welt der etablierten Werte und Normen setzt, nicht, um sich in Weltflucht zu ergehen, sondern um eben dieser Welt ihre Komplexität vorzuführen: ihre dialektische Strittigkeit.


19. Der Präsenz, die EVA & ADELE aufrichten und affirmieren, entspricht eine komplexe Dialektik des Komplexen.


20. Man hätte Lust von einer rosa Dialektik zu sprechen, sofern sich im Rosa statt „feminine“ Lieblichkeit, faktische Opponenz gegenüber den Imperativen einer noch immer männlich dominierten Heteronormativität ausspricht.


21. Anders als andere (dezidiert politische) Künstler, formulieren Eva & Ade ihre Dialektik über die Formbehauptung ihrer Präsenz und Bilder, statt über vereinfachte politische Botschaften.


22. Darin liegt die schwebende Komplexität ihrer Arbeit: ihre Schönheit und Einfachheit.


23. Denn das Einfache ist nicht das Gegenteil zum Komplexen.


24. Es ist nicht Ausdruck von Vereinfachung.


25. Eher indiziert es Leichtigkeit im Komplexen, statt seine Neutralisierung zu sein. Man hat von der „sanften Anwesenheit“ (Hans-Joachim Müller) von EVA & ADELE bei Vernissagen und Kunstereignissen im allgemeinen gesprochen.


26. Diese Sanftheit hat nichts mit unterkomplexer Oberflächlichkeit zu tun; sie indiziert die souveräne Formbehauptung inmitten einer von ihrer Inkommensurabilität zerrissenen Welt.


27. EVA & ADELE arbeiten an der Erfindung eines neuen Subjekts.


28. 1961 schreibt Adorno in einem Artikel zu Picasso, dass „die Masken, in denen die Krisis der Subjektivität sich ausdrückt“, wahrer seien „als die Lüge der kernigen Wahrheit“1.


29. Solange man Wahrheit nennt, was als unerschütterliche Substanz unterhalb der Masken subsistiert, korrespondiert ihr ein konsistentes Subjekt, das von Adornos Philosophie des Nichtidentischen wie den Theorien des Neostrukturalismus unterlaufen wird.


30. Das alte Subjekt ist einem neuen gewichen.


31. Als Wahrheitssubjekt findet es sich durch ein Maskensubjekt substituiert, das als Substitut eines unmöglichen Selbst auftritt, als Substitut schließlich anderer Substitute.


32. Das nichtidentische Subjekt soll Maske seiner unmöglichen Identität sein.


33. Identitätsmaske eines Selbst ohne Selbst.


34. Um den Jargon der Eigentlichkeit und die Feier der Authentizität zu umgehen, insistiert es auf Uneigentlichkeit und Nichtauthentizität.


35. Nicht nur Adorno, auch Derrida situiert das neue Subjekt jenseits stabiler Identität und Substanzialität.


36. Wie man weiß, hat seine Befreiung aus dem Identitätskäfig eine prekäre Subjektivität hervorgebracht.


37. Das Subjekt nach dem Subjekt ist ein seine Identitäten wie Kleider oder Masken wechselndes Subjekt.


38. Wenn ihm überhaupt etwas eignet, dann ist es Wesenslosigkeit.


39. Es oszilliert zwischen verschiedenen Ansprüchen und Rollen.


40. Statt natürliches Subjekt ist es artifizielles und bis zu einem gewissen Grad auch autopoietisches Subjekt.


41. Dem Paradigma der auf sich selbst angewandten Kreativität verschrieben, restituiert es den Idealismus der Selbstschöpfung – allerdings handelt es sich bei dieser Schöpfung um einen unabschließbaren Akt.


42. Weder assimiliert es sich einer Projektion, die sein zukünftiges Selbst diktierte, noch versucht es einem Telos und einem fixen Programm zu entsprechen.


43. Das neue Subjekt ist gegenwärtiges Subjekt.


44. Statt sich an seinen phantasmatischen Ursprung zu klammern oder sich an einer imaginären Zukunft zu orientieren, definiert es sich über seine Gegenwart und Aktualität.


45. Dennoch ist klar, dass diese Gegenwart und Aktualität nicht weniger inkonsistent sind als sein Ursprung und Horizont.


46. Derridas Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz ist Infragestellung der ontologischen Konsistenz aller Zeitdimensionen oder -ekstasen.


47. Keinem Subjekt wird es gelingen, simultan mit sich zu sein.


48. Immer gibt es eine Art quasi-ontologischer Inkongruenz mit sich.


49. Immer steht es quer zu seinem Selbst.


50. Nie kommt es ganz mit sich überein.2


51. Das ist der Spielraum, der ihm bleibt.


52. Der Raum auch einer gewissen Freiheit, die die Freiheit ist, nicht es selbst zu sein.3


53. Es ist die Freiheit zur Maskerade.


54. Seine Befreiung vom Vergangenheits- wie vom Zukunftsdeterminismus.


55. Eine problematische oder kritische Freiheit, insofern sie unentscheidbar von seiner objektiven Unfreiheit qua Gegenwartsverstrickung ist.


56. Statt sich in der Freiheit zu bewegen, ist das Subjekt frei, unfrei zu sein.


57. Es markiert nichts als den Abstand, den es zu sich hält.


58. Räumlicher Abstand und temporale Differenz zu sich, die seine prekäre Gegenwart ausmachen.


59. Das Subjekt nach dem Subjekt ist Subjekt gesteigerter Fragilität.4


60. In EVA & ADELEs Arbeit persistiert das Bild eines neuen Körpers.


61. Vielleicht kann das von ihnen aufgerichtete Subjekt ein queeres nennen.


62. Zweifellos opponiert es der Einteilung des Geschlechtlichen im klassischen binären Muster.


63. Es resistiert zudem dem diesem Muster impliziten Maskulinismus.


64. Zugleich würde man ihre Arbeit verfehlen, schlüge man sie dem Register des Weiblichen zu.


65. Man würde damit nur auf die andere Seite desselben Musters wechseln und bestätigte es damit.


66. EVA & ADELE sind radikaler.


67. Ihre Radikalität liegt darin, an die Wurzel (lat. radix) des binären Schemas zu rühren und es zu entwurzeln.


68. Sie erfinden einen transsexuellen Körper, der im überkommenen Register nicht vorgesehen war.


69. Vielleicht kann man von Kunst nicht mehr erwarten, als die Erfindung eines neuen Körpers.


70. Er ist die Form, die alles zusammenhält: die Impulse von außen, die eigenen Affekte, ihre Interaktionen und Konnexionen.


71. Im Körper kreuzen sich das Innen und das Außen.


72. Er ist Schauplatz dieser Kreuzung, ihre Bühne.


73. So inert und unbeweglich er erscheinen kann, so sehr wird er zum Spiegel einer ganzen Welt.


74. Der existierenden Welt ebenso, wie der an ihren Rändern aufblitzenden Utopien.


75. Michel Foucault hat vom utopischen Körper gesprochen, der ihn überallhin verfolgt.


76. Niemandem wird es gelingen seinem Körper zu entkommen.


77. Wo wir sind, ist er.


78. Wie ein gespenstischer Doppelgänger – ein dunkler Schatten –, kommt er uns überall hinterher.


79. Mit obstinater Insistenz pocht er auf sein Dasein und seine Rechte: "Mein Körper ist eine gnadenlose Topie. Und wenn ich nun das Glück hätte, mit ihm wie mit einem Schatten zu leben? Wie mit alltäglichen Dingen, die ich gar nicht mehr wahrnehme, weil das Leben sie hat eintönig werden lassen? Wie mit den Schornsteinen und Dächern, die sich abends vor meinem Fenster aneinander reihen? Aber jeden Morgen dieselbe Erscheinung, dieselbe Verletzung. Vor meinen Augen zeichnet sich unausweichlich das Bild ab, das der Spiegel mir aufzwingt: mageres Gesicht, gebeugte Schultern, kurzsichtiger Blick, keine Haare mehr, wirklich nicht schon. Und in dieser hässlichen Schale meines Kopfes, in diesem Käfig, den ich nicht mag, muss ich mich nun zeigen. Durch dieses Gitter muss ich reden, blicken und mich ansehen lassen. In dieser Haut muss ich dahinvegetieren. Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin."5


80. Foucault sagt von der Utopie, dass sie gegen den Körper geschaffen worden ist.


81. Das gilt auch für die Utopie für die EVA & ADELE einstehen.


82. Nur handelt es sich nicht um eine Flucht vor dem Körper.


83. EVA & ADELE beschränken sich nicht auf einen Negativismus, der sich der Körperlichkeit verschlösse.


84. Man würde ihre Arbeit verfehlen, übersähe man, was ich hier, vereinfacht und unzureichend, ihren Positivismus nenne: Positivismus im Sinne einer Haltung, die die Setzung (lat. positio) nicht ausschließt, die im Gegenteil einen Affirmationismus des Neuen praktiziert, ein Ja-Sagen zum Offenen wie Unbestimmten, kurz zur Zukunft.


85. Zugleich ist ihrer Arbeit die Repetion eingeschrieben.


86. Wiederholung ist eines ihrer auffälligsten Merkmale.


87. Es geht um wiederholte Präsenz.


88. Das heisst im Sinne es oben beschriebenen: um wiederholte Bejahung von Komplexität durch ebenso kontinuierliche wie disziplinierte Formbehauptung als lebende Skulptur.


89. Es geht um die Skulptierung einer Zukunft, die denkbare Veränderung der Gegenwart indiziert.


90. Die Wiederholung (der immer neu wiederholte Auftritt im Kunstraum: „Where we are is museum!“) impliziert Resistenz gegenüber dem „Bestehenden“ durch Insistenz auf seiner Transformabilität.


91. In der Wiederholung konstituiert sich erst die lebende Skulptur.


92. Durch ihre immer neu reaffirmierte Präsenz gewinnt sie an Präsenz.


93. Insistenz, Resistenz, Komplexitätsbejahung, Wiederholung und Transformabilität werden zu wesentlichen Merkmalen eines neuen Formbegriffs.


94. Es ist eine lebendige Form, die aus der Zukunft kommt, weil sie irreduzibel auf die Gegenwart ist.


95. EVA & ADELE geben ihr Präsenz.



1 Theodor W. Adorno, „Auf die Frage: Mögen Sie Picasso“, in: ders., Vermischte Schriften II, GS 20·1, Frankfurt am Main 1986, S. 524-525, hier S. 524f.

2 Die Psychoanalyse zeigt, dass die Andersheit durch das Subjekt selbst hindurchläuft. Es ist sich bereits selbst ein anderer. Niemals fällt es mit sich ineins. Es steht in einem originären Konflikt mich sich selbst. Derridas letztes Interview trägt den Titel Je suis en guerre contre moi-même. Es geht um seine Krankheit. Zugleich benennt der Titel die wesentliche Aussage der Dekonstruktion zur Kategorie des Subjekts und des Selbst. Subjekt und Selbst finden sich originär von Andersheit, Fremdheit, ja Monstrosität durchzogen. Die Selbstvermittlung des Subjekts läuft über die Auseinandersetzung mit der ihm immanenten Andersheit, Fremdheit, Monstrosität. Insofern ließe sich sagen, dass es kein Subjekt gibt, das nicht bereits mit sich selbst zu mehreren ist, wie Deleuze & Guattari einmal nahelegen. Das Subjekt ist ein originärer Hybride, eine Bastard-Entität.

3 Das ist die Freiheit, die ihm Foucault zugesteht. Siehe z. B. Michel Foucault, „Gespräch mit Ducio Trombadori“, in: ders., Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Frankfurt am Main 1996, S. 23-122, hier S. 27.

4 Man könnte von der Kontingenzoffenheit künstlerischer Praxen sprechen. Aufmerksamkeit auf die Welt ist Aufmerksamkeit auf ihre Kontingenz: Sie ist wie sie ist, aber sie muss nicht so sein. Das Kontingente markiert das Nicht-Notwendige. Der gesteigerte Realismus des Denkens verlangt die Anerkennung dieser Nicht-Notwendigkeit. Er impliziert Auseinandersetzung mit den bestehenden ökonomischen, politischen, kulturellen, militärischen, sozialen etc. Realitäten durch ein gewisses Maß an Dissidenz. Das heisst nicht, dass er von diesen Realitäten absieht. Er verweigert ihnen schlicht ihre Autorität über sich. Wenn es so etwas wie Dissidenz und Abweichung von den dominanten Dispositiven und Imperativen gibt, dann in der intensivierten Auseinandersetzung mit ihrer Brüchigkeit.

5 Michel Foucault, „Der utopische Körper“, in ders., Die Heterotopien / Der utopische Körper, Frankfurt a. M. 2005, S. 25f.

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