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EVA & ADELE: Nur Begegnungen ändern wirklich
Angeli Janhsen

EVA & ADELE fallen überall auf, wo sie hinkommen. Sie haben rasierte Köpfe, geschminkte Gesichter, sie sind seltsam gekleidet, irgendwie pink, irgendwie weiblich, irgendwie unkonventionell. Sie sind entwaffnend freundlich, aufmerksam. Dadurch, daß die eine die andere spiegelt, sind sie als unterschiedliche Menschen gleich zu erkennen – Eva ist, konservativ betrachtet, eher ein Mann, Adele ist eine Frau. Auch bei Ereignissen in Kunstkontexten, wo man ihnen am ehesten begegnet, sind sie auffällig. Wenn man ihnen gegenübertritt, erscheint man selbst im Kontrast zu ihnen nicht nur irgendwie sehr normal, sondern auch sehr einzeln. (Auch wer selbst nicht nur Mann oder nur Frau ist, ist anders, auch wer mit einem Partner kommt, sieht natürlich doch aus seiner eigenen Perspektive.) Was bei Ausstellungseröffnungen oder Kunstmessen und bei anderen Begegnungen sonst unauffällig ist, ist in den Begegnungen mit ihnen überhaupt erst bemerkenswert. Was heißt hier „normal“, was heißt hier „einzeln“?!
EVA & ADELE suchen solche Auftritte in der Welt der Kunst. Aber immer treten sie in der Öffentlichkeit als Paar auf. Sie verwandeln alle Orte, an denen auftreten, in ungewöhnliche, kunstverdächtige Orte. Sie sagen: „Wherever we are is Museum!“ Wo sie sind, ist der normale Alltag überwunden, man wird aufmerksam. Was ist eigentlich Museum, was ist eigentlich Kunst?!
Wenn man länger mit ihnen zusammen ist, wundert man sich über den Gleichklang, den sie ausstrahlen. Sie essen das gleiche, gehen gleichzeitig zur Toilette, sind sich bei allem einig, eine ergänzt die andere, mit geduldigster Ausdauer fokussieren sie ihre Gegenüber und tun das, was sie für richtig halten, unabhängig von dem, was andere für normal halten. Sie lächeln. Es scheint, als kämen sie in ihren überdrehten 50er-Jahre-Kostümen von einem anderen Stern.

Theater
Wenn man Theateraufführungen sieht, weiß man, daß sie ein Ende haben, daß die Darsteller dann ihre Rolle verlassen, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Alltag und der Aufführung. Bei EVA & ADELE gibt es eben diesen Unterschied nicht. Im europäischen Theater gab es jahrhundertelang eine klare Trennung zwischen der Wirklichkeit auf der Bühne und der davor.1 Heutiges Theater kommt oft von der Bühne herab, es mischt sich mit der Wirklichkeit. Heute findet zeitgenössisches Theater auch an anderen Orten statt, die Grenzen verschleifen.2
Wenn man EVA & ADELE begegnet, sind Künstler und Betrachter in einer Welt, die Künstler begeben sich in die Wirklichkeit der Betrachter. Sie irritieren ihre Gegenüber, die sich die Kunst nicht so leicht vom Leib halten können, die keine ästhetische Grenze als Schutz haben, die mit dem Unerwarteten in ihrer eigenen Welt auskommen müssen.
Immer mehr Formen von „Performances“ finden nicht auf der Bühne, nicht im Museum, nicht im Theater, nicht an für Kunst reservierten Orten statt. Im Wiener Aktionismus, beim Orgien-Mysterientheater von Herrmann Nitsch etwa, sind die Wirklichkeiten bewußt vermischt. Akteure und Zuschauer sind in demselben Schloßhof, im selben Raum, oft äußerlich kaum zu unterscheiden. Aber die dortigen Handlungen sind in ihrer Ritualität vielleicht doch zu konventionell, sozusagen pervertiert bürgerlich – und deshalb nur mit einer gewissen Naivität oder gutem Willen als Wirklichkeit zu erleben. Man verwechselt sie nicht mit dem, was sonst in Schloßhöfen passiert. Und man kann sich gut vorstellen, daß Nitsch nach der Show abgeht und im Kreis seiner Vertrauten Manöverkritik macht. Irritationen anderer Künstler, die in wirkliche Situationen eingreifen, etwa Aktionen von Jochen Gerz oder die vielen unauffälligen, mehr oder weniger immateriellen Arbeiten im öffentlichen Raum, wirken dann verstörender. Man weiß kaum, ob es Kunst sein soll oder nicht.
EVA & ADELE stellen traditionelle Begriffe von Theater und Wirklichkeit in Frage, sie richten sich einfach nicht nach ihnen, sondern begegnen ihrem Publikum in dessen Alltagswelt.


Künstler
Künstler könnten, im Alltag, wenn sie keine Kunst machen, unauffällig sein, sie könnten inkognito leben und allein ihre Kunst ausstellen. EVA & ADELE tun das nicht. Sie stehen damit in einer großen Tradition. Schon Giorgio Vasari berichtet im 16. Jahrhundert in seinen berühmten Viten davon, daß Michelangelo sich nicht immer wusch und daß Künstler immer unnormal sind – zu geizig oder zu verschwenderisch, zu offen oder zu verschlossen mit ihrer Umgebung, jedenfalls anders als andere.3 Von vielen Künstlern der Neuzeit wird berichtet, daß sie durch exzentrisches Auftreten auffielen. Im 19. Jahrhundert dann, wo Künstler, jetzt eher unabhängig von Kirche und Hof, allein auf sich gestellt, sich vermarkten müssen, unterscheiden sie sich oft sehr von ihrem Publikum. All die Dandies, die Bürgerschrecke, die Provokateure verunsichern und begeistern die Normalen. Auch die Normalen legen in der Moderne Wert darauf, besondere Individuen zu sein – aber die Künstler übertreffen alles, was die Normalen sich überhaupt vorstellen und erlauben können. Die Normalen können nicht so leben, sie können allenfalls ein Werk von einem solchen Künstler haben und so teilhaben an dieser Besonderheit der besonderen Menschen.
Moderne Gesellschaften leisten sich Künstler als professionelle Außenseiter. Die Künstler tun das, was die normalen Menschen eben nicht tun. So wie Mönche stellvertretend für andere kontemplativ leben können, so können Künstler stellvertretend für andere Grenzen ausloten. So wie Märtyrer Vorbilder sein können, können es Künstler sein. Die Künstler entlasten die Normalen, die selbst normal bleiben können und das Unnormale trotzdem in den Blick bekommen. Künstler als Visionäre, Heiler, Retter und Schamanen werden als Ergänzungen zur eigenen Normalität gern angenommen. Mit hohen Erwartungen an Kunst sind Nichtkünstler bereit, Künstler als Autoritäten zu akzeptieren. Gerade in unserer Gegenwart sind lebendige, freie, waghalsige, andersartige, auffällige Künstler von den funktionierenden, eingebundenen Normalen geschätzt. Andy Warhol trat immer als „Andy Warhol“ auf, Joseph Beuys war nicht mal „im Dienst“, mal nicht. Wer ihnen begegnete, wußte, daß hier ein besonderer Mensch war. Wer von ihnen beachtet wurde, fühlte sich offenbar oft wie gesegnet. (Aber gerade bei Außenseitern kippt die Stimmung schnell von hoher Erwartung in komplette Ablehnung. Wenn Künstler etwas tun, das den Normalen zu unnormal ist, sind sie schnell verdächtigt, krank zu sein oder andere auf den Arm nehmen, sie vereinnahmen, mißbrauchen zu wollen. Aggression ist hier die andere naheliegende Reaktion.)
Im 20. Jahrhundert schaffen Künstler immer öfter überhaupt keine materiellen „Werke“, sie stellen ihr Auftreten in den Vordergrund, ihre Auftritte sind wichtiger als irgendwelche materiellen Äußerungen. Künstler im Umkreis von Dada und Surrealismus inszenieren sich, Duchamp oder Dali wollen auffallen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es immer mehr „Figuren“: Warhol, Beuys, Stelarc, Orlan, Opalka, Flatz, aber auch Künstlerpaare wie Gilbert & George, Marina Abramovic und Ulay.
Was tun sie da?! Wollen sie auffallen? Sind sie krank? Man kann Josef Beuys’ Arbeiten mit einem Kriegstrauma erklären, man kann bei vielen anderen Künstlern auffällige Lebensumstände zur Erklärung ihrer Kunst heranziehen. Bei EVA & ADELE wird man da nicht ermutigt. Sie „verarbeiten“ nicht etwas. Wenn demonstrativ gesunde (oder am gesunden orientierte) Betrachter auf einer seltsam persönlichen, indiskreten Ebene die ihnen unähnlichen Künstler beurteilen, deren Anormalität als Abweichung von sich selbst verstehen – dann haben sie nicht die Spur einer Chance, neue, unerwartete Erkenntnisse an der Kunst zu gewinnen. Die Künstler sind eben nicht wie alle. Und was soll schon normal sein?!4

Feierabend
Seit 1991, also seit 20 Jahren treten EVA & ADELE gemeinsam so auf. Was zu Anfang vielleicht wie ein Gag erschien, zeigt sich mit der Zeit immer mehr als ernsthafte Verpflichtung, die länger dauert als die meisten heute geschlossenen Ehen.
EVA & ADELE ziehen sich anscheinend kaum zurück. Anscheinend leben sie wirklich immer so, jahrelang, jahrzehntelang, anscheinend haben sie nur miteinander Rückzugsräume. Sie wirken wie Märtyrer: Sie geben ihr Leben (und sie haben auch kein anderes!) für das, was ihnen wichtig ist. Früher hat es Eremiten, Mönche oder Säulenheilige gegeben, die Menschen zeigten, wie man auch ganz anders leben könnte. Auch sie waren Außenseiter. Heute sind es Künstler wie EVA & ADELE. Betrachter, die auf Feierabend, Urlaub, auf Privacy und Rückzugsräume achten, muß das irritieren. Wer heute normal lebt und arbeitet, hat geregelte Freizeit, hat den Urlaub, die Wochenenden, und er hat jeden Tag den Feierabend. Er kann Berufliches und Privates trennen, kann oft Öffentliches und Privates trennen. Selbst wenn er auffällig ist, kann anderen auch außerhalb seiner Wohnung Grenzen zeigen. Wer heute normal lebt, kann und muß verschiedene Rollen nebeneinander durchhalten – morgens bei der Arbeit sind die meisten Menschen anders als nachmittags bei den Kindern oder abends in der Kneipe.
Wie wäre das, immer außerhalb der Wohnung gleich aufzufallen? Anders zu sein als alle? Dies Anderssein nicht ablegen zu können? Bei Künstlerpersönlichkeiten wie Warhol oder Beuys muß man vermuten, daß sie auf ein „Privatleben“ weitgehend verzichtet haben. Stars wie Michael Jackson sind als unbeschadete Privatleute nicht zu denken. Nicht alle Menschen leben normal und normiert, vielen sind Wochenenden gleichgültig, sie arbeiten vielleicht durch, sie verstehen Arbeit anders, arbeiten vielleicht gar nicht – aber wer lebt so wie EVA & ADELE?
Es gibt viele Anzeichen dafür, daß sich gerade moderne Menschen wünschen, ganz zu sein. Die Trennung in verschiedene Rollen ist anstrengend, das Spielen strengt an, das Selbstbild verliert, die Welt erscheint leicht irreal. Aber wäre es auszuhalten, so zu leben wie EVA & ADELE? Würde man nicht gleich die Welt ändern müssen, um so leben zu wollen?

Künstlerpaare
EVA & ADELE treten immer als Paar auf. Sicher erfordert das Disziplin und Rücksichtnahme, aber ebenso sicher gibt das Rückhalt. Immer spiegelt die eine die andere, immer bestätigt die eine die andere. Wie andere Künstlerpaare sind EVA & ADELE mehr als nur eine Zweckgemeinschaft. Wassili Kandinsky und Gabriele Münter, Hans Arp und Sophie Täuber, Lee Krasner und Jackson Pollock und viele andere Paare haben sicher Privates und Berufliches verbunden, weil Persönlichkeit und Kunst nicht zu trennen waren. Sie haben sicher voneinander profitiert, sich gegenseitig in Frage gestellt, sich herausgefordert. Immer haben sie aber Kunstwerke präsentiert und sich selbst nur in zweiter Linie. Bei EVA & ADELE ist das umgekehrt.
Auch Gilbert & George sind anders. Außer ihren Werken zelebrieren die beiden schwulen Männer öffentlich eine Beziehung, die doch heute fast nicht mehr auffällig ist. Sie bezeichnen sich als „living sculptures“, verändern also Werkbegriffe. EVA & ADELE geben auf ihrer Homepage zwar ihre Körpermaße an, sind aber an Skulpturen uninteressiert. Ihre Beziehung, bei der Geschlechter und konventionelle Beziehungsmuster offenbar nicht mehr gelten, ist nicht eigentlich dargestellt. Sie sind im Vergleich mit Gilbert und George geradezu auffällig diskret. Es ist müßig, für sie nach Kategorien wie „schwul“, „androgyn“, „transsexuell“, nach Begriffen wie „Travestie“, „Hermaphroditen“, „Zwillinge“, „Paar“, usw. zu suchen. Sie rechtfertigen sich nicht durch Kategorien.
Sie inszenieren auch nie Bilder, die für Paarstrukturen stehen können, wie es Marina Abramovic und Ulay über zehn Jahre lang getan haben. Marina Abramovic und Ulay thematisieren die Gewalt, die Paarbeziehungen innewohnt, die Abhängigkeit, die Vergeblichkeit des Aufeinanderzugehens. EVA & ADELE psychologisieren nicht, sie erscheinen einfach immer zusammen, zu zweit, verdoppelt. Immer erscheinen sie dadurch schon im Recht mit dem, was sie tun. Sie beschützen sich gegenseitig und bauen eine Aura um sich herum.

Begegnungen
Wer diesem Paar begegnet, ist irritiert. Gerade Menschen, die mit Kunst zu tun haben, sind es zwar gewöhnt, einen Abstand zwischen sich und ihrem Gegenstand zu haben. Sie sind es gewöhnt, zwischen dem Gewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen zu unterscheiden. Wahrscheinlich schätzen sie das an Kunst. Aber wenn man weiß, daß es ja „nur“ Kunst, nur „Theater“ ist, verhält man sich anders als dann, wenn Künstler ihr Leben öffentlich leben. Die üblichen Grenzen gelten bei EVA & ADELE nicht, die Betroffenheit kann nicht sozusagen unter „Kunst“ „abgelegt“ werden. Hier wird eine Einheit von Kunst und Leben angeboten, die ebenso verstörend ist wie die Einheit von Menschen, die immer und überall auffallen, die Männliches und Weibliches, die Berufliches und Privates nicht trennen.
In Begegnungen zeigt sich, wem man glauben will. Nur Menschen glaubt man, Lehrer sind deshalb als Persönlichkeiten wichtig. Man kann noch so viel lesen, noch so viel nachdenken – wenn man sieht, daß jemand etwas, was er fordert, auch wirklich lebt, ist jedes Mißtrauen schwierig. Das eigene Leben des Betrachters steht gegen das eigene Leben der Künstler. So wirklich, wie man selbst ist, sind EVA & ADELE. Sie sagen oder zeigen einem nicht nur etwas, sie sind etwas.
Wo EVA & ADELE sind, ist nicht nur „Museum“, sondern vor allem ungewöhnliche Aufmerksamkeit und große Freundlichkeit. Alles andere erscheint irgendwie falsch, obwohl doch sie die Unnormalen, Verrückten sind. Als Künstler sind sie „Außenseiter der Gesellschaft“, und eben deshalb können sie die Gesellschaft mit frischem Blick, von außen, sehen und etwas wagen, was jemandem, der in der Gesellschaft normal funktioniert, nicht in den Sinn kommen würde. Moderne Gesellschaften brauchen Künstler, die das lebendig halten, was in der Mitte der Gesellschaft nicht möglich ist. Gerade weil die Künstler verrückt sind, können die anderen normal sein. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem, was man selbst nicht ist, wird einem klar, was man überhaupt ist und was man sein möchte. Immer macht Kunst solche Irritationen möglich und fördert das Verständnis von sich selbst und anderem. Wo sich diese Positionen begegnen, ist alles möglich.
EVA & ADELE sind als außergewöhnliche, kostümierte und geschminkte Gestalten mit rasierten Köpfen sofort auffällig. Sie agieren in Räumen, die nicht Theater sind. Sie begegnen einem wirklich. Weil die sonst zwischen Kunst und Wirklichkeit üblichen Grenzen nicht gelten, weiß man kaum, wie man sich verhalten soll: Wie im Alltag? Wie im Theater? Wie sonst? Wenn man im gleichen Raum mit diesem Künstlerpaar ist, ist man wie angesteckt, verändert, irrealisiert oder erst recht lebendig, in Frage gestellt. Man wird selbst in dem Maß geändert, in dem man EVA & ADELE als wirkliche Menschen anerkennt. Die eigene Normalität wird beinahe zur Abweichung von dem neuen Standard, die EVA & ADELE zu zweit so auffällig neu setzen.
Betrachter können sich natürlich abwenden, sie können EVA & ADELE meiden, sie können das alles für Unfug erklären, der sie nicht angeht. Aber sie können nur weggehen oder das Paar grob ignorieren, wenn sie selbst unangetastet bleiben wollen. Sobald sie mit EVA & ADELE zusammen sind, in derselben Wirklichkeit wie sie, sind sie selbst nicht mehr wie vor der Begegnung.
Künstler, die nicht Werke anbieten, sondern sich selbst ausstellen, zur Verfügung stellen, gegenüber stellen, betreffen ihre Betrachter auf besondere Weise. Ein Werk eines Künstlers zu besitzen ist möglich, wenn man Geld hat. Das ist vergleichsweise banal: Man kann einen Anteil an dem Künstlerischen kaufen, man hat es in der Hand. – EVA & ADELE zu sehen ist ein Glücksfall. Es ist nicht selbstverständlich, ihnen zu begegnen, und man versteht gleich, daß die Situation außergewöhnlich ist. Um andere Stars zu sehen, muß man bezahlen. Man bleibt dort Betrachter. Hier kann man Glück haben mit einer geschenkten Begegnung.
Gelegenheiten dafür ergeben sich nicht oft. Man selbst ist meist am falschen Ort, man tut im Leben eben anderes. Und irgendwann wird nicht nur man selbst sterben, auch die beiden oder erst eine von ihnen wird sterben, irgendwann sind solche Begegnungen nicht mehr zu erleben, dann sind nur noch Erinnerungen und später nur noch Fotografien da, Augenzeugen können eine Zeit lang berichten, erzählen, aber irgendwann wird sich die Spur verlieren. Begegnungen hier und jetzt sind kostbar.

Gerüchte
Es geht darum, EVA & ADELE jetzt live zu sehen. Reproduktionen von Begegnungen sind nicht möglich. Die vielen Fotos sind nur eine Spur dessen, was in den Begegnungen mit den Fotografen geschah, die Fotos erinnern nur an diese Begegnungen. Die Begegnungen selbst sind nicht reproduzierbar. Viele Kunstwerke, Bilder oder Musikstücke etwa, erscheinen uns reproduzierbar. Wir sprechen anhand von Fotos über Kunstwerke, als seien sie da. Das ist bei neuer Kunst noch problematischer als bei alter. Aktionen, Events oder Happenings sind nur denen, die wirklich zugegen waren, wirklich zugänglich gewesen.5 Selten, nämlich nur, wenn es Partituren gibt und Künstler das zulassen, können Performances wie Musikstücke oder Choreografien neu aufgeführt werden – meist sind es aber einmalige, oft in der Beteiligung mit dem jeweiligen Publikum entstandene, nicht wiederholbare Aktionen. Überliefert, nicht reproduziert, werden sie durch Fotos. Fotos können aber nur eingefrorene Bilder und nicht Handlungen, Stimmungen, räumliche Situationen, Geräusche usw. festhalten. Man greift eher als auf die oft aus dem Zusammenhang gerissenen, kommentarbedürftigen Fotos auf Beschreibungen und Zeugenberichte zurück – eigentlich auf Gerüchte. Das gilt für alle Performances. Fotos werden dann zu Ikonen, wie beispielsweise das berühmte Foto von Beuys mit dem toten Hasen aus der Düsseldorfer Aktion von 1965 „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“. An ihnen ist die Vergeblichkeit des Festhaltens deutlich.
Die ungeheuer vielen Fotos von EVA & ADELE zeugen von dem Interesse, Begegnungen zu fixieren – und von dem Wissen, daß das vergeblich ist. „Da gehen doch immer zwei Künstlerinnen – oder sind es Männer? – über die Art Basel, pink gekleidet, lächelnd, völlig verrückt?“ Solche Gerüchte sind bekannter als die Fotos und als EVA & ADELE selbst. In solchen Gerüchten werden die jeweiligen Aktionen geradezu anonymisiert und eingebunden in den Schatz der bekannten Merkwürdigkeiten, Monströsitäten und Verrücktheiten: „Da hat mal ein Filmstar einen Fürsten geheiratet“, „Da ist mal einer an Drogen gestorben“, „Da ist mal einer im Hotel ausgerastet“, „Da ist mal eine Frau jahrelang unterirdisch gefangengehalten worden“, „Da hat mal einer einem toten Hasen seine Bilder erklärt“, „Da hat sich mal auf der Documenta einer einen Nagel durch die Handgetrieben“, „Da hat sich mal einer aus dem Fenster gestürzt“ … Natürlich sind das verschiedene Gerüchte. Wenn solche Gerüchte als „unnormale“ zusammengefaßt werden, sind sie überhaupt nicht zu klären. Der Umgang mit Merkwürdigkeiten hat in der Kunstgeschichte aktuell keine wissenschaftliche Methode. Bei „Unnormalem“, das aus einem hochgeschätzten (Kunst-)Kontext kommt, das zudem eigentlich bloß durch Gerüchte tradiert wird und das Normalen unheimlich ist, sind Differenzierungen dringend nötig.
Die Gerüchte über EVA & ADELE vermitteln eine Ahnung davon, daß Menschen anders leben können, daß Paare gelingen können, daß Geschlecht, Gender, frei verstanden werden kann, daß Freundlichkeit, Lächeln und Aufmerksamkeit möglich sind. Man versteht an den Gerüchten, daß Menschen mehr Möglichkeiten haben als die „normalen“. Man versteht, daß Menschen eben alle verschieden sind, daß da Aufmerksamkeit und Geduld nötig sind, große Toleranz – und die Freundlichkeit und bedingungslose Zugewandtheit, die EVA & ADELE so auffällig kultiviert hatten.

Verantwortung
Wenn klar ist, daß bei EVA & ADELE ihre eigenen Gesundheit, ihre Lebenszeit, ihre tatsächliche Beziehung so etwas wie die „Materialien“ ihrer Kunst sind, wird auch deutlich, wie wichtig ihnen ihr Anliegen offenbar ist, wie hoch also auch die Verantwortung der Betrachter ist. Schon Vasari berichtet, wie der eigene Ruf, die eigene Gesundheit, andere Menschen, wie alles von Künstlern zugunsten ihrer Kunst hintangestellt wird, wie Künstler ohne Rücksicht auf Verluste experimentieren. Eva Hesse zum Beispiel ist wegen der von ihr verwendeten giftigen neuen Materialien früh gestorben, andere haben versucht, mit mehr oder weniger gefährlichen Drogen Lebendigkeit herzustellen. Das eigene Leben kann in der Moderne „Material“ für Kunst sein, der eigene Körper kann „Material“ für Kunst sein.
Ein Moment von Erpressung steckt in solcher Kunst, die nur mit Schwierigkeiten herzustellen waren oder deren „Material“ mit dem Künstler vielleicht identisch ist, ihm jedenfalls besonders kostbar war. Wie Selbstmorddrohungen oder kostbare Geschenke kann man solche Kunstwerke nicht einfach hinnehmen. Man bekommt Verantwortung, man gerät in Zugzwang.
Bei den Aktionen von EVA & ADELE ist deutlich, daß sie ernst gemeint sind, daß nichts einfach so dahergetan wird. Wenn heute jeder jederzeit alles sagen und tun kann, wenn also in einer reichen Gesellschaft mit allgemein zugänglichen Medien jeder sich äußern kann, dann wird jede Äußerung abgewertet. Wo alles möglich ist, ist gleichzeitig alles entwertet. Dann muß die Ernsthaftigkeit beteuert werden, und eine Inflation von Wertkundgebungen kommt in Gang. Man muß offenbar 20 Jahre lang so verrückt leben wie EVA & ADELE, um wahrgenommen zu werden. Als Betrachter wird man sich hier leicht unwohl fühlen, sich verpflichtet fühlen – es sei denn, man halte bei anderen alles für möglich, was man selbst nie tun würde. Man könnte glauben, EVA & ADELE seinen eben verrückt, so wie man z.B. glauben könnte, daß es Bettlern generell nichts ausmacht zu betteln oder Sportlern generell nichts ausmacht, Verletzungen in Kauf zu nehmen. Welche Einschränkungen und Leiden anderer betrachtet man eigentlich, und wie?6 Das eigene Unwohlsein dabei sollte man aber ernst nehmen. Denn indem man die Opfer der Künstler annimmt und vielleicht von ihnen profitiert, ist man beteiligt und verantwortlich. Auch im Zirkus bin ich als Zuschauerin mitverantwortlich dafür, wenn ein Hochseilartist abstürzt – er wäre schließlich ohne Publikum wohl nicht so durch die Luft geflogen. Man kennt solche Situationen. Extremsportlern unterstellt man vielleicht Besessenheit, ein eigenes Interesse zum Beispiel an einer gefährlichen Bergbesteigung. Aber auch hier sind Medien beteiligt, die von all denen genutzt werden, die es doch wohl als entlastend und befreiend sehen, wenn jemand anders etwas wagt, wozu sie selbst nie den Mut hätten. Bei Zirkus, Extremsportarten, beim Klassischen Ballett und anderen Unternehmungen, die große Disziplin und Opfer fordern, um Schönheit oder Freiheit darzustellen, sind wir daran gewohnt, die Opfer unserer Stellvertreter anzunehmen und passiv zu genießen. Wir wissen, daß sie von uns gerade nicht erwarten, daß wir tun, was sie tun.
Bei EVA & ADELE reicht es nicht, sie irgendwie für verrückt, für anders zu erklären. Gerade weil EVA & ADELE anders sind, muß man über sich selbst neu nachdenken. Leben sie stellvertretend für uns? Sollen wir es ihnen nachmachen?
Wie geht man überhaupt mit den Opfern um, die die Künstler ständig ungefragt bringen?! Sehen EVA & ADELE ihre Kunst überhaupt als Opfer? Die Wirklichkeit von Ausgesetztsein, Auffälligsein und Gefährdung besteht für EVA & ADELE. Wer sich einfühlt, versteht die Schwierigkeit. Gleichzeitig sind sie entwaffnend gelassen und freundlich. Wer das annimmt, versteht neue Möglichkeiten.
Irgendeine Art von Gesundheit oder Normalität ist hier nicht das Ziel, weder für Künstler noch für Betrachter. Hier soll keiner geheilt werden. Die Irritation in den Begegnungen mit EVA & ADELE ist dann sinnvoll, wenn sie einen neuen Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht. Das kann hier berichtet werden. Es ist auch sinnvoll, bloß Fotos und Gerüchte zu kennen und nicht einmal besitzbare „Werke“ zu haben, wenn damit wirklich etwas in Gang kommt. Es reichen Anstöße. Wir können Besseres denken. Das normale Leben reicht nicht.


1 Ernst Michalski: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstwissenschaft, Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Bernhard Kerber, Berlin 1996.
2 Ein Interesse am Authentischen wird immer größer, je mehr sich ein Gefühl für Wirklichkeit verliert. Wer mit den Medien, mit dem Internet, umgehen kann, wer die Technik so nutzt, daß er kaum noch unterscheiden kann, was er wirklich weiß und was nicht, wo er wirklich war und wo nicht, wen er wirklich kennt und wen nicht – der wird seine Wirklichkeit als Theater erleben und Kunst und Künstlichkeit anders verstehen als jemand, der die neue Technik nicht kennt. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956/1980. Guy Debord: Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996 (1973). Jean Baudrillard: Die fatalen Strategien; München 1985 (1983). George Steiner: Von realer Gegenwart; München/Wien 1990 (1989).
Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006.. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits des Sinns. Über eine neue Sehnsucht nach Substantialität; in: Merkur Heft 9/10, Sept./Okt. 2005, S. 751-761. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004.
3 Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler, Wien 1934. Martin Wackernagel: Das Leben des Künstlers in der Renaissance, Leipzig 1938. Rudolf und Margot Wittkower: Künstler. Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 1968. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. Eckhard Neumann: Künstlermythen, Frankfurt/Main 1986. Donald Kuspit: Der Kult vom Avantgarde-Künstler, Klagenfurt 1995. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997. Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998.
4 Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München 1974. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen/Wiesbaden 1998. Marion von Osten (Hg.): Norm der Abweichung, Wien/New York 2001. Christina Bartz/Marcus Krause (Hg.): Spektakel der Normalisierung, München 2007.
5 Edith Almhofer: Performance Art, Wien 1986. Elisabeth Jappe: Performance. Ritual. Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München 1993. Johannes Lothar Schröder: Identität – Überschreitung – Verwandlung, Münster 1990. Sabine Flach: Körperszenarien, München 1994. Justin Hoffmann: Destruktionskunst, München 1995. Roselee Goldberg: Performance. Live Art since the 60s, London 1998. Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. München 2000. Tracey Warr/ Amelia Jones: The Artist´s Body, London 2000. Lea Vergine: Body Art and Performance, Mailand 2000. Christian Janecke: Performance und Bild - Performance als Bild, Berlin 2004. Irene Schubiger: Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und „Self-editing“, Berlin 2004.
6 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München/Wien 2003. Obwohl es hier um Kriegsfotografien geht, also nicht um Kunst, sind Sontags Überlegungen hier sinnvoller als die Einübung distanzierter Kunstbetrachtung.

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